Jeder kennt wohl die Situation. Man ist in einer Gruppe neuer Menschen und es gibt ein kurze Vorstellungsrunde. Für einige ist bereits die Vorstellung daran unangenehm. Die Frage, wie du dich selbst beschreiben würdest, ist allerdings sehr spannend. Die meisten beginnen damit was sie beruflich machen oder was sie studieren. Doch ist das tatsächlich das, mit dem du dich am meisten identifizierst? Steckt nicht mehr in deiner Persönlichkeit?
Zu enger Fokus
Viel zu oft identifizieren wir uns nur über unseren Job oder unser Studium. Damit verbringen wir üblicherweise die meiste Zeit. Es ist also verständlich. Allerdings bringt es auch erhebliche Nachteile mit sich, wenn wir uns voll und ganz auf eine Sache konzentrieren. Denn wir vernachlässigen dabei häufig einen anderen wichtigen Lebensbereich.
Der Workaholic, der seine Gesundheit völlig vernachlässigt und durch einen Herzinfarkt seinen ersten Weckruf bekommt. Oder die Triathletin, die ihr ganzes Leben der Gesundheit verschreibt, aber sich neben dem Training keine Zeit für Beziehungen oder Familie nimmt.
Diese Nachteile sind wohl leicht erkennbar und treffen hoffentlich auf die wenigsten zu. Doch es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt, der weniger offensichtlich ist: unseren Selbstwert. Identifizieren wir uns nur über eine Sache, steht auch unser Selbstvertrauen auf einem wackeligen Fundament. Ein geplatzter Deal, eine erhoffte Beförderung, die nicht stattfindet oder eine negative Prüfung reichen aus, um unser gesamtes Leben in Frage zu stellen.
Profi-Sportler leiden häufiger unter dieser Einstellung. Sie verschreiben ihr ganzes Leben einer einzigen Sache und genau das bringt sie an die Weltspitze. Der größte Traum ist der Weltmeistertitel oder die Olympia-Medaille. Doch das bringt einen unerträglichen Druck mit sich. Alles steht und fällt mit dem einen Wettkampf. Wie soll man da seine beste Leistung abrufen?
Ein Haus mit vielen Räumen
Der Author und Coach Brad Stulberg gibt eine hervorragende Analogie zur Persönlichkeit. Sie ist wie ein Haus mit verschiedenen Räumen. Es gibt den großen Raum, den wir bereits angesprochen haben, für Karriere oder Studium. Doch für ein erfülltes, glückliches Leben reicht dieser alleine nicht aus.
Es gibt hoffentlich einen Raum, in dem du Zeit mit deinem Partner oder deiner Familie verbringst. Vielleicht bist du auch bereits Mutter oder Vater, was ebenfalls einen eigenen Raum darstellt. Darüber hinaus bist du Musiker oder Sportler.
All diese Teile deiner Persönlichkeit kannst du dir wie einen eigenen Raum vorstellen. Bei mir sind das beispielsweise Räume für mich als Portfoliomanager, Familienmensch, Lektor, Lebenspartner, Athlet, Doktorand, Blogger, Lernbegeisterter, Freund, etc.
Diese Räume bleiben im Laufe des Lebens nicht gleich. Das ist auch gut so. Auch die Zeit die wir in den verschiedenen Räumen verbringen verändert sich. Gerade als junger Mensch in der Ausbildung oder am Beginn der Karriere, liegt der Fokus oftmals auf Studium oder Job.
Es ist ok, eine längere Zeit in einem Raum zu verbringen. Doch wir sollten die anderen nie völlig vernachlässigen.
Vielleicht denkst du dir sofort, dass es die Leistung in deinem wichtigsten Raum mindert, wenn du dich nicht voll und ganz darauf fokussierst. Dass du dadurch weniger erfolgreich wirst. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Vorteile eines ausgeglichenen Lebens
Ein eindrucksvolles Beispiel ist der schwedische Eisschnellläufer Nils van der Poel. Er hält die Weltrekorde für 5.000m und 10.000m und holte bei den vergangenen olympische Winterspielen 2022 in Peking auch beide Gold-Medaillen.
Nach seinen Siegen verfasste er ein frei zugängliches 62 Seiten PDF zu seiner Trainingsphilosophie und seinem genauen Trainingsplan, das bei Ausdauersportlern weltweit Empörung auslöste: How to Skate a 10K.
Er verfolgt nämlich einen recht unkonventionellen Ansatz. Er trainiert nur an 5 Tagen der Woche und an 2 lebt er wie jeder andere und nimmt sich Zeit für seine Freunde. Speziell im Ausdauerbereich ist das für die meisten Profi-Athleten undenkbar.
Der Ansatz ist auf keinen Fall eine Aufforderung es gemütlicher anzugehen. An den Trainingstagen ist das Programm enorm, mit beispielsweise einer Einheit von 7 Stunden Radfahren mit 265 Watt.
Das Dokument ist wirklich spannend zu lesen und man sollte sich von den 62 Seiten nicht abschrecken lassen. Wenn man die genauen Trainingsaufzeichnung weglässt, sind es wahrscheinlich nur 10 Seiten.
Van der Poel beschreibt, wie er in der Jugend zu verbissen war und es nichts außer Eisschnelllauf gab. Heute gibt es auch ein Leben außerhalb des Sports und das gibt ihm eine gewisse Gelassenheit für Wettkämpfe. Genau diese Lockerheit macht ihn noch stärker. Er hat die Gewissheit, dass ihn auch eine Niederlage nicht aus der Bahn werfen würde.
Genau das macht es so wertvoll, breit aufgestellt zu sein. Wenn es in einem Raum nicht läuft, läuft es in einem anderen. Das merke ich bei mir selbst. Das Doktorat ist oftmals mühselig und ich hinterfrage, warum ich mir das antue. Doch genau in diesen Momenten läuft es in der Arbeit oder im Sport super. Das relativiert das Ganze und motiviert mich weiterzumachen.
Wenn es in der Arbeit mal stressig und schwierig ist, kommt mir eine neue Idee für meine Forschung oder ich genieße das Lehren an der Uni.
Für jemanden der sich nur über den Sport identifiziert wäre ein gebrochenes Bein der Weltuntergang. Bei mir hingen wäre es zweifelsohne mies, aber es gibt Schlimmeres. Auch für mich ist Sport enorm wichtig und der beste Ausgleich. Trotzdem, wenn ich die Möglichkeit eine Zeit lang nicht habe, konzentriere ich mich auf einen anderen Bereich und gebe dort umso mehr Gas.
Wenn ich all meine Lebensbereiche im Griff habe, ist es erträglicher, wenn es in einem nicht gut läuft. Ich kann mich darauf verlassen, dass mir die anderen Bereiche Energie geben und mich aus einem Tief ziehen können. Diese Gewissheit gibt mir außerdem das Selbstvertrauen bewusst auf Herausforderungen zuzugehen.
Es ist nicht so, dass Zeit, die du in einem Bereich investierst, in einem anderen Bereich fehlt. Wir dürfen unsere unterschiedlichen Lebensbereiche nicht isoliert betrachten. Du kannst Wissen aus einem Bereich in einen anderen übertragen und Verbindungen herstellen, die sonst niemand kennt.
Und der wichtigste Vorteil: Du machst deinen Selbstwert und deine Freude am Leben nicht mehr von einer Sache abhängig. Es ist keine Leben oder Tod Entscheidung mehr, ob du das Turnier gewinnst oder befördert wirst. Und genau die Lockerheit, die du dadurch gewinnst, macht dich noch stärker. Du kannst anfangen die Dinge zu genießen, anstatt verbissen und nervös an die Sache heranzugehen. Plötzlich bereichert diese eine Sache dein Leben, anstatt es zu limitieren.
Du hast dieses eine Leben. Mach was draus.
Mehr zu diesem Thema: “Du brauchst ein UND”.
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Abschließend noch ein Zitat von Naval Ravikant aus seinem Podcast bei Joe Rogan:
“Specialization is for insects. – You’ve got one life, just do everything you’re going to do.”
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